Wo bist du?

03. Jan 2022

Gott fragt den Menschen (1): Gen 3,9

Die biblischen Urgeschichten versuchen auf erzählerische Weise, Antworten auf die Fragen nach dem Woher und Wohin dieser Welt zu geben und auf die bedrängende Frage, warum es Leid, Gewalt und Tod gibt.

Wo bist du?

Hat Gott die Welt etwa nicht gut gemacht? Müssen wir Angst haben vor diesem Gott? Beide Schöpfungserzählungen, die den Anfang unserer Bibel bilden, sind von einer großen Harmonie und Ruhe geprägt. Alles hat Gott gut gemacht, so sind die Verfasser dieser Texte überzeugt. Viel geredet wird zu Beginn des Lebens noch nicht, offensichtlich kommen Gott und seine Geschöpfe auch ohne viele Worte gut miteinander aus. Doch an den Menschen richtet Gott ein Wort, das dieser so nicht annehmen mag: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16f). Gottes Wort beginnt mit einer großen Zusage: Die ganze Welt stellt Gott uns zur Verfügung! Doch das wird vom Menschen schnell überhört, die Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf die Einschränkung, die als Verbot empfunden wird. Warum setzt uns Gott Grenzen? Die Menschen kommen nicht auf die Idee, dass das Verbot zu ihrem Besten ist, dass Gott sie schützen will vor etwas, was sie überfordern würde. Doch es drängt die Menschen zur Erkenntnis, sie wollen sein wie Gott und finden durch die Grenzüberschreitung nur den Tod. Die Menschen erkennen ihre eigene Nacktheit und Vergänglichkeit und bekommen Angst vor der Größe Gottes. Kaum hören sie, dass Gott sich ihnen nähert, versuchen sie, sich vor ihm zu verstecken.

Was ich beim Lesen dieser alten Geschichten immer wieder erstaunlich finde: Gott, vor dem doch nichts verborgen ist, der alles sehen kann und alles weiß (vgl. Psalm 139), macht das Versteckspiel mit. „Wo bist du?“ (Gen 3,9) – das ist die erste Frage, die Gott dem Menschen stellt. Kann es sein, dass sich das bis heute nicht geändert hat? Dass wir uns immer noch ängstlich verstecken, sobald wir die Schritte Gottes hören und dass Gott immer noch nach uns sucht und ruft: „Wo bist du?“

Gottes Frage ermöglicht eine Erneuerung der Beziehung. Zunächst geht der Mensch auf die Frage ein und bekennt seine Angst. Aber als Gott danach fragt, wie der Mensch zu dieser Erkenntnis gekommen ist, die ihm so viel Angst macht, weicht der Mensch aus. Der Mann verweist auf die Frau, die Frau zeigt auf die Schlange … niemand will es gewesen sein. Das Vertrauen ist offensichtlich so tief gestört, dass die Menschen sich nicht mehr trauen, Gott gegenüber aufrichtig zu sein. Das Versteckspiel geht also weiter. Als ob wir Gott wirklich etwas vormachen könnten! Doch Gott lässt sich auch darauf ein. Er lässt die Menschen ihren Weg gehen, einen Weg voller Dornen, Mühen und Schmerzen. Doch Gott bricht niemals die Beziehung zu uns ab. Unablässig ruft er uns nach: „Wo bist du?“ Und er lädt uns ein, ihm so wie wir sind, gegenüberzutreten, nackt, schwach, fehlerhaft. Wagen wir es endlich, das Gesprächsangebot anzunehmen? Erneuern wir die Beziehung zu Gott und kehren heim?

Wenn wir beten, dann ist es immer Gott, der als erster das Wort an uns richtet – nur überhören wir das meistens, weil wir gleich zu reden beginnen. „Wo bist du?“, so fragt er uns. „Warum hast du dich vor mir versteckt? Komm heraus, zeig dich mir. Steh zu dem, was du bist und tust. Hab keine Angst, ich meine es gut mit dir!“ Die Gebetshäuser, die wir errichtet haben, sollten eigentlich dieses Gespräch ermöglichen. Doch oft ist es wie bei dem prachtvollen Tempel, der einst in Jerusalem stand. Statt ein Haus des Gebetes zu sein, war aus ihm eine Räuberhöhle geworden, wie Jesus voll Trauer und Wut feststellte (Lk 19,46). Also ein Ort, in dem man sich versteckt, um nicht ertappt zu werden, so wie Räuber es tun. Wie oft machen wir mit unseren prachtvollen Feiern und vielen Gebetsworten Gott etwas vor? Wie oft dienen sie nur dazu, unsere Nacktheit und Schwachheit zu verbergen?

„Wo bist du, Mensch? Warum versteckt du dich? Warum hast du Angst vor mir?“ Wer beten will, sollte sich diesen Fragen Gottes stellen. Eine neue Beziehung wird dadurch möglich. Gott wartet weiter auf uns.

Ralf Huning SVD

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