„Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“

01. Jul 2022

Gott fragt den Menschen (7): Jes 6,8

Gott greift nicht von oben herab ins Weltgeschehen ein. Er geht immer den Weg von unten. Er will durch Menschen wirken – aber niemals ohne ihre Zustimmung.

„Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“

Das Buch des Propheten Jesaja gehört zu den umfangreichsten Bücher des Alten Testamentes. Das Lukasevangelium erzählt uns, dass Jesus bei seiner ersten Predigt in der heimatlichen Synagoge in Nazareth aus diesem Buch vorgelesen hat (vgl. Lk 4,16-21). In den Visionen des Propheten fand er seine eigene Sendung vorgezeichnet. Auch die ersten Christen schätzten dieses Prophetenbuch sehr, denn es half ihnen, den Sinn des Lebens und Sterbens Jesu zu begreifen.

Wer das Jesaja-Buch aufschlägt, liest zunächst von mehreren undatierten prophetischen Visionen, die bei aller Verschiedenheit ein gemeinsames Thema haben: Gott wendet sich seinem Volk zu, will für es sorgen, doch sein Angebot stößt auf Ablehnung. Der Prophet war überzeugt, von Gott gesandt zu sein, als Rufer und Mahner. Doch er musste erkennen: Seine Botschaft würde nicht zur Bekehrung führen, sondern sogar die Abwehrhaltung des Volkes noch verstärken. Dennoch sollte er nicht schweigen: „Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Verfette das Herz dieses Volkes, mach schwer seine Ohren, verkleb seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht, mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft.“ (Jes 6,9f).
Jesaja ging als Prophet zu seinen Mitmenschen mit dem Wissen, dass es eine Veränderung zum Guten, eine Umkehr des Volkes erst nach der großen Katastrophe geben würde, auf die alles zusteuerte: „Da sagte ich: Wie lange, Herr? Er sagte: Bis die Städte verödet sind und unbewohnt, die Häuser menschenleer, bis das Ackerland zur Wüste verödet ist.“ (Jes 6,11)

Wie kommt jemand dazu, sich auf einen solchen Auftrag einzulassen? Davon erzählt Jesaja selbst im sechsten Kapitel seines Buches. Die Vision, die ihn seine Berufung erkennen ließ, wird von ihm historisch genau datiert, es war im Todesjahr des Königs Usija (736 v. Chr.). Jesaja macht so deutlich: Es war zwar eine Vision, aber es war etwas, was wirklich geschehen ist. Er schaute die Herrlichkeit Gottes. Seine Schilderung ist von großen Kontrasten geprägt. Einerseits erlebte er die unermessliche Größe Gottes. Allein der Saum seines Herrschergewandes war so groß, dass die ganze, fünfzehn Meter hohe Tempelhalle davon ausgefüllt war. Er sah Gott umgeben von himmlischen Wesen, wie sie in den religiösen Bildern der Nachbarvölker oft dargestellt wurden: Serafim, gefiederte Schlangenwesen, die von Gottes Heiligkeit und Erhabenheit kündeten. Gegenüber dieser überwältigenden himmlischen Welt fühlte er sich selbst unendlich klein und unzulänglich. Er wurde von großer Angst erfüllt: „Da sagte ich: Weh mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und mitten in einem Volk unreiner Lippen wohne ich, denn den König, den HERRN der Heerscharen, haben meine Augen gesehen.“ (Jes 6,5). Doch so, wie man damals Wunden ausbrannte, damit gesundes Gewebe nachwachsen konnte, wurde das, was er als Ausdruck seiner sündigen Existenz benannt hatte („unreine Lippen“) durch ein himmlisches Wesen heil gemacht: „Da flog einer der Serafim zu mir und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Er berührte damit meinen Mund und sagte: Siehe, dies hat deine Lippen berührt, so ist deine Schuld gewichen und deine Sünde gesühnt.“ (Jes 6,6f).

So geheiligt, wagte Jesaja etwas Ungeheuerliches. Er hörte die Stimme Gottes, doch er erstarrte nicht mehr vor Angst und Scham. „Da hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ Und ohne zu zögern sagte er: „Hier bin ich, sende mich!“ (Jes 6,8) Dies ist in der Bibel die einzige Berufungsgeschichte, in der Gott die Frage stellt: „Wen soll ich senden?“ Aber in vielen anderen Erzählungen wird deutlich, dass Gott immer wieder auf der Suche ist nach Menschen, die seinen Anruf vernehmen und sich von ihm in Dienst nehmen lassen. Sie müssen keine besonderen Fähigkeiten haben und keine Übermenschen sein. Gott selbst macht sie fähig, „reinigt“ und „heiligt“ sie für ihren Dienst. Das Einzige, was wir Menschen tun müssen, ist, ein freies „Ja“ zu Gottes Auftrag zu sprechen. So wie Jesaja und Maria es uns vorgemacht haben: „Mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38).

Auch wenn der Auftrag nach menschlichem Ermessen wenig erfolgversprechend erscheint, so wie bei Jesaja, oder gar leidvoll, wie bei Maria („Deine Seele wird ein Schwert durchdringen“ Lk 2,35), sollen wir wissen: Es geht um Mitwirkung an Gottes Heilsplan für die Menschheit, an der Vollendung der Welt. Ohne menschliche Mitwirkung will Gott das nicht tun. Darum stellt er immer wieder die Frage, wo es Menschen gibt, die sich ihm zur Verfügung stellen: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“

Ralf Huning SVD

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