„Wer hat mein Gewand berührt?“

01. Jun 2023

Jesus fragt (6): Mk 5,30

Es gibt verschiedene Arten von Berührung. Es macht einen Unterschied, ob mich jemand streichelt oder mich kraftvoll massiert.

„Wer hat mein Gewand berührt?“

Menschenmassen sind gefährlich. Diese Erfahrung musste auch Jesus machen. Sein Ruf als Prediger und Heiler verbreitete sich sehr schnell in seiner Heimat. Wohin er auch kam, war er von einer großen Menge von Leuten umgeben. Und jeder hatte nur eines im Sinn, Jesus ganz nahe zu kommen. Und wozu das alles? Um später daheim stolz berichten zu können: „Ich habe den Wunderheiler berührt!“ So wie heute manche Leute erzählen, sie hätten dem Papst die Hand geschüttelt.

Wo Jesus auch auftauchte, gab es ein großes Gedränge. „Damit er von der Menge nicht erdrückt werde“ (Mk 3,9) lehrte Jesus auch schon einmal von einem Boot aus die vielen Menschen, die im sicheren Abstand am Ufer des Sees zurückblieben. Doch nicht immer konnte er auf diese Weise für seine Sicherheit sorgen. Als ihn einmal ein Mann bat, in sein Haus zu kommen, um seine sterbenskranke Tochter zu heilen, kam er wegen des großen Gedränges nur schwer voran. Plötzlich blieb er stehen und stellte eine Frage, die seine Jünger überhaupt nicht nachvollziehen konnten. „Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt?“ (Mk 5,30f). Doch Jesus ging nicht auf den Einwand ein, sondern blickte umher, um die Person zu entdecken, deren Berührung er auf eine ganz besondere Weise wahrgenommen hatte.

Als Leser des Evangeliums wissen wir bereits, was geschehen war. Die besondere Berührung stammte von einer Frau, die sich in der Menge von hinten herangedrängt hatte, um sein Gewand zu berühren. Nur das Gewand, von Hautkontakt war nicht die Rede. Und doch spürte Jesus diese Berührung, denn sie verursachte, „dass eine Kraft von ihm ausströmte“ (5,30), die bei der Frau unmittelbar heilende Wirkung hatte. Ein eigenartiges Geschehen! Die Heilungskraft strömte aus Jesus nicht deshalb, weil er das so wollte, sondern weil die Frau das so wollte! Und Jesus schien damit völlig einverstanden gewesen zu sein, denn er sagte zu ihr: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.“ (Mk 5,34)

Diese Frau, die seit vielen Jahren chronisch krank war, wird uns als Glaubensvorbild dargestellt. Über viele Jahre war sie in ärztlicher Behandlung gewesen und „hatte dabei sehr zu leiden. Ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden“ (Mk 5,26). Wir kennen solche Schicksale auch aus unserer Zeit. Irgendwann brechen die Menschen dann zusammen, sie verlieren alle Hoffnung und ergeben sich in ihr Schicksal. Doch bei dieser Frau war es anders. Als sie von Jesus hörte, nahm sie in sich einen verrückten Gedanken wahr: „Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt“ (Mk 5,28). Das Überraschende war, dass sie diesen Gedanken nicht verwarf, sondern alles daran setzte, ihn in die Tat umzusetzen. Und wie sie geglaubt hatte, geschah es und sie wurde von einem auf den anderen Augenblick gesund.

Der Glauben, den uns Jesus wünscht, besteht nicht im Fürwahrhalten von bestimmten Dogmen und Lehrsätzen. Er besteht auch nicht darin, ihm wie einem Popstar zuzujubeln. Es geht vielmehr um die Überzeugung, dass ich im Kontakt mit Jesus das volle Leben habe. „Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil.“ (Mk 11,24) lehrte Jesus. Das volle Leben ist bereits da – es wird aber nur wirksam durch Glauben. Es gibt viele Stimmen in uns, die diesen Glauben verhindern wollen. „Es ist Unsinn“, sagt die Stimme der Vernunft. „So zu glauben, vermehrt nur deinen Schmerz“, schreit in uns die Angst. „Es ist aussichtslos“, sagt die Einsicht. „Es ist lächerlich“, sagt der Stolz. „Es ist unmöglich“, sagt die Erfahrung. Die Frau, von der das Markusevangelium erzählt, hat all diese Stimmen in sich zum Schweigen gebracht. Sie hatte einen Glauben, der „Berge versetzen“ konnte (vgl. Mk 11,23). Er bewirkte, dass die heilende Lebenskraft einfach aus Jesus herausströmte. Das passierte Jesus nicht häufig. Aber es war genau das, was er sich für uns alle wünschte.

Ralf Huning SVD

Datenschutzhinweis

Diese Webseite nutzt externe Komponenten, wie z.B. Facebook und Youtube welche dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Datenschutzinformationen