Wohin geht die letzte Reise?

Theologische Anregung

Jenseitsvorstellungen der frühen Christen

Auf ihren Grabsteinen haben die frühen Christen aufgeschrieben, was sie sich vorstellen: Der Warteraum bis zum fernen

Was haben die Christen in der Antike geglaubt, was nach dem Tod passiert? Wenn das eigene Kind starb oder der Ehepartner, was glaubte man, wo sie nun waren? Eine Antwort erhält man am ehesten aus Texten, die anlässlich eines Todesfalles entstanden. Die überlieferten Grabreden sind dabei nicht so ergiebig, weil sie stark an rhetorischen Modellen orientiert sind und von Angehörigen der Elite verfasst wurden, deren Ideen für die breite Masse der Christen kaum repräsentativ sind. Aussagekräftiger erscheinen die sogenannten Epitaphe, die Texte „am Grab“ (taphos).

Über 60.000 christliche Grabinschriften aus der Antike sind erhalten. Die Christliche Archäologin Jutta Dresken-Weiland hat sie ausgewertet und daraus einen Katalog von 1700 Epigrammen mit Aussagen zum Jenseits zusammengestellt.

Sicherlich spiegeln Grabinschriften nicht unbedingt den Glauben ihrer Auftraggeber. Ähnlich wie heutige Todesanzeigen folgten sie bestimmten Konventionen. Und dennoch: Man musste den Konventionen nicht folgen. Man konnte auch umformulieren. Und tatsächlich finden sich neben bestimmten immer wiederkehrenden Formeln wie HIER RUHT IN GOTT/IN CHRISTUS/IN FRIEDEN auch ganz individuelle und einzigartige Formulierungen.

Dabei ist auffällig, was so gut wie nie vorkommt: Fegefeuer, Hölle, Jenseitsstrafen. Das ist psychologisch verständlich. Wer möchte schon angesichts des Todes eines Angehörigen oder im Blick auf den eigenen Tod – manche Grabinschriften ließ man bereits zu Lebzeiten für sich selbst anfertigen – an Strafen im Jenseits denken? Aber es finden sich auch kaum Trostlosigkeit, Verzweiflung oder Zynismus, wie sie manchmal auf zeitgenössischen nichtchristlichen Epitaphen zum Ausdruck kommen. Die christlichen Grabinschriften sind fast durchgängig optimistisch. Selbst beim Tod der eigenen Kinder formulieren sie Zuversicht. Den beiden Mädchen Litora und Prenestina rufen ihre Eltern auf einer Inschrift aus den Katakomben von San Sebastiano zu:
EIN EINZIGER GRAUSAMER TAG ENTRISS EUCH DEM FREUNDLICHEN LICHT. WAS HELFEN DIE TRÄNEN? WIR GLAUBEN, DASS IHR DIE HIMMLISCHEN WOHNUNGEN ERREICHT HABT UND DIE WIESENBLUMEN DES PARADIESES PFLÜCKT.

Allerdings häufen sich auch bei Nichtchristen in den ersten Jahrhunderten hoffnungsfrohe Ausblicke auf das Jenseits. Besonders unter dem Einfluss der Mysterienkulte glaubte man zunehmend an Erlösung durch engen Kontakt mit einer Gottheit und an ein entsprechend heilvolles Leben nach dem Tod. Auch in anderer Hinsicht verstärkten die Christen Entwicklungen, die schon früher begannen und auch andere Religionen erfassten. Das gilt etwa für den Übergang von der Verbrennung und Urnenbeisetzung zur Körperbestattung im 2./3. Jh. Früher hat man diesen Wechsel auf den christlichen Auferstehungsglauben zurückgeführt. Die Christen förderten zwar die Erdbestattung, heute weiß man aber, dass die Tendenz dazu schon vorher einsetzte und diese Form der Beisetzung dann auch bei Nichtchristen immer beliebter wurde.

Auferstehung spielt (noch) keine Rolle
Eines der verblüffendsten Resultate der Studien zu den frühchristlichen Grabinschriften bildet die Erkenntnis, dass die Auferstehung nur äußerst selten erwähnt wird. Vielleicht lag das daran, dass man Auferstehung nicht unbedingt mit etwas Positivem assoziierte. Immerhin gab es auch eine Auferstehung zum Gericht und zur Bestrafung. Außerdem war Auferstehung am frischen Grab noch kein Thema. Die Vorstellung von einer sofortigen Auferstehung, wie sie manche moderne Theologen vertreten, gab es in der Kirche nicht. Bei Auferstehung dachte man an ein fernes Ereignis: entweder an die Auferstehung zu einem Tausendjährigen Reich, die ,,erste Auferstehung“ der Johannes-Apokalypse (20,5), oder aber an die kosmische Verwandlung am Ende der Zeiten, durch die ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen. In beiden Fällen gilt: Sie betrifft die Toten jetzt schlicht noch nicht. Bis dahin haben sie noch eine lange Wartezeit zu überbrücken. So heißt es in einer Inschrift, die man in der heutigen Türkei gefunden hat:
DEN WEISEN BISCHOF PIENTIOS BERGEN IN FORM SEINER SEELE DIE HIMMLISCHEN HÖFE INNERHALB IHRER TORE. DIE ÜBERRESTE SEINES FLEISCHES ABER BEWAHRT DIESES KLEINE GRAB, BIS SIE BEI DER AUFERSTEHUNG DIE AMBROSIA KOSTEN WERDEN.

Die Unterscheidung des Körpers, der noch hier auf Erden ist, von der Seele der Verstorbenen, die im Himmel weilt, kommt auf den christlichen Gräbern recht häufig vor. Dahinter steckt kein „unchristlicher“ Leib-Seele-Dualismus, der den Leib endgültig von der Seele abtrennen würde. Die Trennung von Seele und Leib im Tod wird nicht absolut gedacht. Vielmehr wird mit dieser Differenzierung ein zwiespältiges Empfinden angesichts des Todes zum Ausdruck gebracht: Einerseits hofft man, dass die Toten schon jetzt irgendwie am Ziel sind, sie nicht ewig warten müssen, bis es ihnen richtig gut geht. Andererseits weiß man aber, dass ihnen doch noch etwas fehlt, solange noch etwas von ihnen auf Erden zurückbleibt. Dieses „Etwas“ symbolisieren die körperlichen Überreste: Das Leben des Verstorbenen wirkt noch nach, die Angehörigen und andere Kontaktpersonen leben noch, die Geschichte, deren Teil sie waren, geht noch weiter. Der Leib, den sie zurückgelassen haben, dient deshalb als UNTERPFAND – so heißt es im Epitaph der 363 verstorbenen Römerin Eleutheria. Erst wenn die ganze Welt und damit auch die körperlichen Überreste verwandelt werden, gelangt auch die Geschichte der Toten zur Vollendung. Dieses Ende ist jedoch so fern, dass es für die Trauernden praktisch keine Rolle spielt.

Auferstehung und Jüngstes Gericht sind also weit weg. Doch wo befinden sich die Verstorbenen jetzt? Den Grabinschriften zufolge weilen sie im Frieden, in der Ruhe, im Himmel, Paradies, Elysium, in Abrahams Schoß, in der himmlischen Stadt. Antike Theologen waren sich uneins, ob es sich dabei um wirkliche Orte handelt. Tertullian bejaht die Frage, er nennt Abrahams Schoß ausdrücklich ein „lokales Ziel“ oder einen „Bestimmungsort“ (ocalis determinatio) und eine „Region“, die „zwar nicht im Himmel, aber doch oberhalb der Unterwelt“ liegt. Origenes zufolge ist das Wort allerdings „symbolisch“ zu verstehen. Und die Theologin Makrina pflichtet ihm in einem Gespräch mit ihrem Bruder Gregor von Nyssa bei: Es sei „naheliegend, auch die hier [in der Lazanuserzählung] erwähnte Unterwelt nicht für einen Ort zu halten, sondern für einen unsichtbaren und körperlosen Zustand, in dem nach der Lehre der Schrift die Seele fortlebt“.

Das Jenseits ist ein Gemeinschaftserlebnis
Viele der frühchristlichen Grabinschriften, aber auch andere Texte dieser Zeit, stellen das Jenseits als ein Gemeinschaftserlebnis vor. In erster Linie geht es um Gemeinschaft mit Gott. Das bringt schon eine der knappsten und häufigsten Formeln zum Ausdruck: IN GOTT ODER IN CHRISTUS. Es ist also mehr als ein bloßes Bei­ Gott-Sein, es ist ein Innewohnen in ihm, eine intime Verbindung, in der Gott nicht einfach dem Menschen gegenübersteht, sondern ihn so umfasst, dass er selbst zum Ort des Menschen wird. „Gott selbst“, sagt Augustinus, „soll nach diesem Leben unser Ort sein.“

Theologisch gebildete Leser und Leserinnen der Grab-Formel konnten dabei an die (auf dem Konzil von Chalkedon 451 dogmatisierte) Lehre von der Vereinigung von Gott und Mensch in der Person des göttlichen und menschgewordenen Logos denken, die letztlich besagt, dass Christus der Ort des Menschen in Gott ist, er dort sein Ziel und seine Bestimmung findet. Auf andere Weise drückt dies die paulinische Lehre von der Gemeinschaft der Christen als „Leib Christi“ aus. Und noch einmal anders formulieren es Grabinschriften, die die Verstorbenen IM LICHT CHRISTI verorten.

Gemeinschaft pflegen die Toten nach Auskunft der frühchristlichen Grabinschriften aber auch mit Engeln und Menschen. Gemeinsam bilden sie eine GEMEINSCHAFT VON HEILIGEN. Einzelne Epigramme erwähnen herausragende Erlebnisse von Gemeinschaft: Gesang und Tanz (beides umfasst das lateinische und griechische Wort für Chor); Umarmungen und Berührungen (häufig ruhen die Toten im „Schoß“ oder an der „Seite“ Abrahams, Paulus‘ oder eines anderen Heiligen); gemeinsames Essen und Trinken (die um 500 in Marseille verstorbene Eugenia EILT FROH ZU DEINEM MAHL, O PARADIES). Auch die Grabkunst präsentiert häufig Mahlszenen, in denen die Tischgemeinschaft der Verstorbenen mit dem Totenmahl der Hinterbliebenen verschmilzt.

Die Toten gehen in der Gemeinschaft jedoch nicht auf. Öfter ist davon die Rede, dass sie unterschiedliche WOHNUNGEN beziehen. Damit verbindet sich das Bild des Hauses, aber auch eine ganze Reihe von anderen architektonischen Jenseitsbildern.

Wohnen in der Himmelsstadt und im Paradies
Die Ägypterin Makaria, so verkündet ihre Grabinschrift, DURCHWANDELT DIE HIMMLISCHE STADT DER HEILIGEN. Für Menschen der Antike war die Stadt mehr als ein geografischer Ort. Sie bildete einen Schutzraum, umgeben von Mauern und Toren, die Feinde, Räuber und wilde Tiere abhielten. Zugleich galt sie mit ihren Höfen, Palästen und Gärten als Inbegriff von Zivilisation und Kultur.

Die Römerin Theodora Afrodite freut sich nach ihrem Tod im Jahre 382 IM PALAST CHRISTI und genießt die ERLESENEN DÜFTE DES PARADIESES, WO DIE GRÄSER AN DEN BÄCHEN STETS GRÜNEN. Bischof Hilarius von Arles, 449 verstorben, ist nach Auskunft seiner Grabinschrift EINGETRETEN IN DIE HÄUSER DER ENGEL. Von dort bietet sich ihm ein wunderbarer Anblick:
ER SIEHT, O PARADIES, DEINE REICHTÜMER, DEINE STETS DUFTENDEN GRÄSER, DEINE WOHLRIECHENDEN GÄRTEN MIT GÖTTLICHEN BLUMEN.

Das Jenseits bietet also ein multisensorisches Erlebnis. Es spricht alle Sinne an: die Augen mit herrlichen Aussichten, die Ohren mit Engelsgesang, die Nase mit Blumendüften, die Haut mit Berührungen, Zunge und Gaumen mit Wein, Milch und Honig sowie der Ambrosia, der mythologischen Speise der Unsterblichen.

Hilarius sieht noch mehr: DIE WOLKEN UNTER FÜßEN UND DIE STERNE DES HIMMELS. Zahlreiche andere Grabinschriften betonen, dass die Seele der Verstorbenen zum Himmel oder den Sternen emporgeflogen ist – eine Vorstellung, die sich im gesamten Römischen Reich findet, schon in Ägypten begegnet und wohl auch ein Anklang an die in der griechischen und römischen Antike verbreitete Vorstellung ist, dass besondere Tote zu Sternen werden. Mit ihren körperlichen Überresten haben sie alle Erdenschwere zurückgelassen.

RIP – Requiescat in Pace
Als vor einigen Jahren die Nachricht vom Tod der Sängerin Amy Winehouse um die Welt ging, wünschten ihre Fans ihr in zahlreichen Internetforen schlicht RIP – Rest in Peace, REQUIESCAT IN PACE. Diese Formel, die in Zeiten der Kurzmeldungen eine Renaissance erlebt, ist uralt. Sie geht auf das frühe Christentum zurück. Der Wunsch nach Ruhe und Frieden wurde in der Antike zum besonderen Kennzeichen christlicher Grabinschriften – die Formel IN FRIEDEN findet sich sonst nur noch in jüdischen Epitaphen.

Der Friedensbegriff war deshalb so beliebt, weil er eine Fülle positiver Sinngehalte umfasste. In seinem Werk Die Gottesstadt zählt Augustinus sie auf: von der seelischen und leiblichen Gesundheit über den Frieden zwischen Mensch und Gott sowie der Menschen untereinander bis hin zum kosmischen Frieden aller Dinge und der himmlischen Welt. Das Wort konnte aber auch schlicht die Grabesruhe oder die Zugehörigkeit zur Kirche bezeichnen. Nicht zuletzt identifizierte man den Frieden mit Christus (Eph 2,14). Dem kam entgegen, dass man das Christuszeichen, das aus den griechischen Anfangsbuchstaben des Namens Christus X (chi) und P (rho) gebildet wurde, auf Latein als Abkürzung für PAX lesen konnte.

Leben nach dem Tod an „anderen Orten“ – das Jenseits als Heterotopie
Der französische Philosoph Michel Foucault hat den Begriff Heterotopie geprägt. Damit bezeichnet er „andere Orte“ oder „Räume“, Gegenorte innerhalb der Gesellschaft, die besonders sind, die das Gewohnte unterbrechen, das „Normale“ spiegeln, verzerren und verkehren, aber gerade dadurch auch etwas über die Gesellschaft aussagen. Als Beispiele nennt er Krankenhäuser, Gefängnisse oder ein Kreuzfahrtschiff.

Auch das Jenseits ist gewissermaßen eine Heterotopie. Auch wenn man darüber streiten kann, wie real dieser Raum ist: Er ist auf jeden Fall ganz anders und fremdartig; gleichzeitig sagt er etwas über unser Leben hier und jetzt aus. Denn die Beschreibungen dessen, was noch kein Lebender gesehen hat, arbeiten mit Metaphern, mit „Übertragungen“: Erfahrungen aus dem Diesseits werden auf das Jenseits übertragen.

Deshalb verweisen die Jenseitsbilder umgekehrt auf jene Momente im Leben, die etwas von der anderen Welt erahnen lassen, erfüllte Augenblicke, Erfahrungen von Ewigkeit mitten in der Zeit: der Anblick der Sterne in einer klaren Winternacht. Das warme Licht eines Sommertages. Ein blühender und duftender Frühlingsgarten. Die Geborgenheit einer liebevollen Umarmung. Das Zusammensein mit angenehmen Menschen. Die entrückte Schwerelosigkeit beim Tanzen und Singen. Das Gefühl der Erhabenheit beim Flug über den Wolken und durch den Sternenhimmel. Die gemeinsame Anbetung in der Liturgie. Die betende Vereinigung mit dem unseres Lebens. In all diesen Erlebnissen – das verdeutlichen die frühchristlichen Jenseitsbilder – öffnet sich der Himmel, leuchtet die Ewigkeit herein.

Prof. Dr. Andreas Merkt ist Professor für Historische Theologie, Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Universität Regensburg. An seinem Lehrstuhl ist das Forschungsprojekt „Metamorphosen des Todes“ angesiedelt, in dem u. a. erschienen ist: A. Merkt (Hg.), Metamorphosen des Todes. Bestattungskulturen und Jenseitsvorstellungen im Wandel der Zeit – Vom alten Ägypten bis zum Friedwald der Gegenwart. Schnell & Steiner 2016.

In: WUB 4/2020; S. 35-38
Mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH vom: 07.05.2021

Zur weiteren Information:
https://www.bibelwerk.shop/produkte/leben-nach-dem-tod-von-osiris-zu-jesus-3002004

Prof. Dr. Andreas Merkt

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